Rockhauptstadt Liepaja & Tipps für das graue Karosta
Gebückt kämpfe ich mich durch den kleinen unterirdischen Gang. Aus der Ferne dringt das Rauschen des Meeres an mein Ohr, welches mindestens genauso weit weg erscheint, wie der kleine Lichtstrahl am Ende des Tunnels hier nördlich von Liepaja im Highlight der Region.
Der kleine Schacht ist nur eines von vielen Highlights in Karosta. Der Tipp aus den Weiten des Internets, unbedingt in den Norden Liepajas zu fahren, hatte sich zuvor schon mehrfach bezahlt gemacht.
Dieser Artikel erzählt vom grauen Alltag Karostas, einer Sehenswürdigkeit Nord-Liepajas ganz anderer Natur: Dem einzigen für Touristen geöffneten Gefängnis in einem früheren Militärsperrgebiet.
In einem zweiten Teil des Artikels folgt ein Blick auf den Süden von Liepaja. Tipps wie die Traumstrände und die Freiheit auch in früheren Tagen sowie weniger marode Plattenbauten als noch in Karosta bilden einen irrealen Kontrast.
Karosta Highlights: Die Sowjetunion zurückgeholt!
Tauche ein in die tiefste UDSSR, das Militärsperrgebiet Karosta. Im Gegensatz zu den einstigen Häftlingen im früheren Gefängnis, dem heutigen Touristenmagnet, wirst Du der Karosta-Stimmung auch wieder entfliehen können.
Karosta Gefängnis (Karosta cietums)
Niemand ist je aus dem Karosta Prison, einem Kriegshafengefängnis geflohen. Manch Website schreibt davon, dass das berühmte Alcatraz nur ein Schatten von Karosta ist. Den Vergleich kenne ich nicht, doch wie die Menschen in den Zellen hausten, das durfte oder musste ich auf der 40-minütigen Führung erfahren.
Im streng zum Dutt gebundenen Haar steht sie da – unser Tourguide. Oder doch eine Gefängnisangestellte? Die nächsten 40 Minuten läuft die kleine 8-köpfige Reisegruppe in Reih und Glied, antwortet ausschließlich mit „Yes, ma’am!“ oder „No, ma’am!“ und schreitet durch dicke Stahltüren hindurch.
Strenger Guide & schockierende Gefängniszellen
Der Anfang des Gefängnisses ist noch entspannt und gleicht tatsächlich einem Museum. Wir sehen alte Relikte, Gasmasken & Kleidung. Dazu zahlreiche Abzeichen und Waffen. Spätestens im Verhörzimmer wird der Ton rauer. Sie fordert uns dazu auf, die Namen der Parteichefs der Sowjetunion zu nennen – und wir scheitern kläglich. Später müssen Fragen in sportlich anspruchsvollen Posen beantwortet werden. Wer nicht mitkommt, bekommt einen bösen Blick.
Noch schlimmer sind die Zellen, in denen sich auch hinter uns die Türe schließt. Manche haben ein kleines Fenster weit oben, durch dessen Milchglas kaum ein Sonnenstrahl nach innen dringt. „Genießt die Aussicht“ ruft sie uns spöttisch zu, als sie die Türe verriegelt. Auf dem Boden liegt ein kleines Holzbrett, welches den lachhaften Namen „Bett“ genießt.
Und dann wäre da noch Zelle 26, das Horrorurteil eines jeden Inhaftierten. Ist die Türe geschlossen, dringt nicht nur kein Wort nach innen, die Zelle ist zu 100% verdunkelt. Übrigens gab es keine Obergrenze für die Anzahl an Menschen, die sich die circa fünf bis sechs Quadratmeter teilen mussten.
Führungen zur vollen Stunde für 5€ Eintritt
Hin und wieder reißt uns ein kleiner Witz aus der bedrückenden Klemme, die während des Rundgangs ganz bewusst phasenweise erzeugt wird. Ich glaube gern, dass nie jemand aus dem Karosta-Prison geflohen ist, dafür über 150 Menschen ihr Leben ließen.
Tallinn Tipps – die schönsten Sehenswürdigkeiten der Märchenstadt
Die Tour durch das Gefängnis, welches die Russen nie als solches bezeichneten, gibt einen guten Einblick in die damaligen Zustände. Die fünf Euro Eintritt für das Karosta Prison sind gut investiert. Touren gibt es im Sommer fast den gesamten Tag über zur vollen Stunde.
Karosta-Tipp für Hartgesottene: Gefängnisübernachtung
Wer in Karosta einen Tipp für ein noch realeres Abenteuer sucht, der hat gleich zwei Optionen. Für wenig Geld lässt sich eine Nacht im Gefängnis buchen. Du wirst wohl weniger ruhig als im 4-Sterne-Hotel schlafen, doch das Abenteuer ist riesig.
Zudem gibt es rund 10 Kilometer nördlich die Möglichkeit an einem der auch im deutschsprachigen Raum beliebten Escape-Room-Spiele teilzunehmen. Konkret geht es darum, aus den Fängen der Sowjetunion zu flüchten.
Ein wichtiger Tipp im Karosta-Gefängnis: Unbedingt die typisch russischen Speisen zu Spottpreisen testen! Soljanka, Plow und Co. kosten teils weit unter 2,00 Euro.
Viele weitere Sehenswürdigkeiten der anderen Art gibt es in Karosta ohne Griff in den Geldbeutel:
Nikolauskathedrale in Karosta
Die Marinekathedrale St. Nikolaus wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut. Nach zwei Jahren stand ein Bauwerk der Superlative, welches speziell von Außen Prunk und Protz signalisiert. Was für den Touristen ein nettes Fotomotiv ist, muss die Anwohner massiv verärgern.
Im Umkreis befinden sich Unmengen an Plattenbauten, bei denen es kaum mehr sicher scheint, den Balkon der eigenen Wohnung zu betreten. Für die einen ist es der Charme des Zerfallenen, doch hier wohnen viele Menschen.
Verrückte Gegensätze: Prunk & Armut
Ich laufe entlang des Zentrums von Karosta. Ein Plattenbau gleicht dem nächsten. Dazwischen zahlreiche einsturzgefährdete Häuser. Allein der Wasserturm hinterlässt einen wirklich guten Eindruck, ist aber seit 1989 im Rentenalter angekommen. Fast das gesamte 20. Jahrhundert hinweg versorgte er die Umgebung mit Trinkwasser.
Die größte russisch-orthodoxe Kirche in Lettland zeugt davon, dass Karosta eine besondere Stellung hatte. Noch heute erzählt man sich, dass eine Postkarte nach Wladiwostok den gleichen Preis kostete, wie eine ins fünf Kilometer entfernte Liepaja. Apropos Liepaja: auf vielen russischen Karten war die Stadt nicht einmal eingezeichnet – aus Sicherheitsbedenken.
Liepaja Fortress – ins Meer gespülte Forts und unterirdische Gänge
Weiter geht es in Richtung Westen. Bald taucht das Meer auf. Zunächst noch mit reichlich Sand, später vermehrt Steinen. Entlang der größten Mole Lettlands (Nordmole) geht es immer weiter am Wasser entlang, bis mir die ins Meer gespülten Forts ins Auge fallen.
„Liepaja Fortress 3rd Battery“ ist ein Ort, den man unbedingt gesehen haben muss. Er zeugt von der Endlichkeit der Sowjetunion und Karosta sowie von Naturgewalten, die auch den größten Betonklotz vereinnahmen.
Auf den ins Meer gespülten Forts kann man spazieren, zudem bietet sich eine tolle Kulisse auf die Baracken und wie bereits erwähnt gibt es auch kleine dunklen Gänge, die nur geduckt zu durchschreiten sind. Manch Graffiti schafft den Schwung aus der Vergangenheit hin zur Moderne.
Liepaja Tipps: Traumstrände & kleine Sehenswürdigkeiten als Gegenpol
Die Oskara Kalpaka Brücke überspannt den Karosta-Kanal und gilt heute selbst als Sehenswürdigkeit Liepajas. Damit ist der Sprung zurück ins echte Liepaja geschafft – einer, der vor einigen Jahrzehnten undenkbar erschien. Viel zu abgeschottet war der Norden der Gesamtstadt.
Da sich Karosta und Liepaja ohne direkten Kontakt entwickelten, überrascht es kaum, dass der Süden viel moderner ist. Eher Zufall ist hingegen, dass selbst der Strand eine ganz andere Qualität aufweist.
Rockhauptstadt Lettlands samt „Walk of Fame“
Auch in Liepaja sind Sehenswürdigkeiten nicht in jede Ecke gepflanzt und diverse Platten passen sich ans Stadtbild an. Wer aus der lettischen Hauptstadt Riga kommt und in Liepaja eine ähnliche Altstadt erwartet, der wird enttäuscht. Charme aber hat die Stadt.
An der Touristeninformation und dem Rosenplatz beginnt täglich um 12:00 Uhr eine geführte Tour durch die Stadt über 2,5 Stunden, die mit 4€ gut bezahlbar ist.
Zu den schönsten Ecken im Zentrum von Liepaja und meinen Tipps gehört die Universität mit dem herrlichen gepflanzten Schmetterling davor, der im Sommer in den schönsten Farben leuchtet.
Deutlich wird, dass die Musik in der Stadt eine große Rolle spielt. Die selbsternannte Rockhauptstadt hat sogar einen musikalischen „Walk of Fame“, auf dem die Handabdrücke der berühmtesten Künstler zu sehen sind.
Kathedralen & weitere Sehenswürdigkeiten Liepajas
Die Dreifaltigkeitskirche ist die berühmteste Kathedrale in Liepaja, aber nicht die einzige. Auch die Kathedrale St. Josef im Süden der Stadt und die orthodoxe Kirche „Sv. Alekseja pareizticīgo baznīca“ im Norden sind schick anzusehen.
Wirklich stolz sind die Letten auf ihre Konzerthalle, die hochmodern ist, in Metropolen aber kaum weiter auffallen würde. Sogar Führungen werden angeboten.
Mein Liepaja-Tipp schlechthin ist aber eher ein kleiner Spaziergang entlang der Graudu iela (iela = Straße), in der zahlreiche Gebäude mit typischen Jugendstil-Verzierungen stehen. Neben Riga ist Liepaja die Stadt des Jugendstils in Lettland.
Auch eine Menge Street-Art füllt die dunklen Straßen mit Leben.
Liepaja Sehenswürdigkeiten im Überblick
- Liepaja Universität
- Rosenplatz (Square of Roses)
- Dreifaltigkeitskathedrale und weitere große Kirchen
- Konzerthalle „Großer Bernstein“
- Graudu iela (Straße mit Gebäuden des Jugendstils)
Der traumhafte Strand von Liepaja
Bei all den sehenswerten Flecken Liepajas ist aber das Highlight für Urlauber eindeutig: Liepajas Strand. Der feinkörnige Sandstrand über zahlreiche Kilometer lässt ein Ostesee-Badefeeling aufkommen, welches in Deutschland undenkbar wäre. Gut platziert sind wohl im Umkreis von knapp 50 Metern keine Menschen, Gedränge am Strand gibt es in Liepaja nicht.
Entsprechend gering sind natürlich auch die Verpflegungsoptionen, doch spätestens einige hundert Meter den Strand entlang oder im Grünen hinter den Dünen gibt es eine saftige Fast Food-Auswahl.
Der Liepaja-Beach ist die große Liebe der Anwohner. Die Stadt hat das Glück (oder in wirtschaftlicher Hinsicht Pech), dass in Jurmala unweit der Hauptstadt Riga ebenfalls ein schöner Strand existiert, sodass kaum Letten den Weg in den Osten auf sich nehmen.
So wundervoll das Meeresrauschen und die Träumereien am Strand auch sind, mein Liepaja-Highlight und Tipp für alle Leser ist zweifelsfrei der Ausflug nach Karosta am einst unerreichbaren Nordende des Ballungsraumes.
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